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Central Park Berlin

Jenseits von Schloss und Riegel

 

Wenn man um das Jahr 2000 herum nach Berlin kam, hatte man hin und wieder das eigenartige Gefühl, in ein Zeitloch zu fallen. Der Reichstag hatte wieder eine Kuppel, der Pariser Platz wieder seine alte Form; im Hotel Adlon saßen Menschen im dreiteiligen Anzug und rauchten Zigarren, an der Ecke Friedrichstraße bei VW stand ein alter Vorkriegsbugatti - fehlte nur noch das Schloss, um das neue Berlin, das ja auch ein Zerrbild des unschuldigen gemütlichen alten vormodernen Berlins werden sollte, perfekt zu machen und das Zentrum einer Stadt in einen tourismusfähigen Themenpark mit dem Titel heiteres Preußenland zu verwandeln.

Nun ist das Schloss wieder da,  jedenfalls ein noch im Rohnbau befindlicher Wiedergänger seiner Form, der wie ein Geist aus Beton an der Spree steht. Gegenüber wachsen die neuen Wohnquartiere, auch sie mit Fassaden, die an den Stil des Kaisserreichs anknüpfen sollen, und auch sie zeigen, wie steril und unglaubwürdig die Rekonstruktion einer leitkulturell wertvollen Vergangenheit im Detail aussehen kann. Im Internet gibt es mittlerweile aufwendige Werbefilme, die Investoren anlocken sollen, in dem sie vorführen, wie das Leben neben  dem Schloss aussehen könnte. Man sieht in diesem Film eine Frau, die einkaufen geht, dann erscheint das neue Wohnquartier: weiße Fassaden, Sprossenfenster, grüne Fensterläden, zu Kugeln geschnittene Buchsbäume, die Architektur sieht aus, als habe der Architekt wie ein hektischer Konditor noch ein wenig sahnecremehaften Gips um die drögen Tortenböden geschmiert, damit das Ganze ein wenig mehr an Art déco erinnert. Vor dem Haus parkt seltsamerweise eine Kutsche, als habe es wirklich einen Zeitsprung gegeben und die Frau erwartete den Besuch des soeben aufgetauten Alexander von Humboldt. Auf dem Dach des Hauses befindet sich ein langgestreckter Swimmingpool mit Blick hinüber zur Friedrichswerderschen Kirche; die Frau geht schwimmen, bis es dunkel wird, man sieht sie nicht, nur ihre High Heels am Beckenrand. Später trifft sie den Mann zum Dinner. Sie trägt jetzt ein Abendkleid, das sie blasser wirken lässt; sie prosten einander mit überdimensionierten Rotweingläsern zu, und da ist der kleine Film auch schon zu Ende, mit dem der Immobilienentwickler Bauwert für die „Kronprinzengärten“ an der Friedrichswerderschen Kirche einen 85 Millionen Euro teuren Apartmentkomplex mit dreißig Luxuswohnungen im Zentrum Berlins Reklame macht.

Der Film dazu ist eigentlich ein Horrorfilm. Er zeigt eine leere Existenz. Die Frau tut nichts, sie geht nicht ins Museum, sondern nur daran vorbei, sie arbeitet nicht, sie hat offenbar keinen Beruf und keine Freunde, nur ihren Mann. Ihr Tag besteht aus Shopping, Schwimmen, Auf-den-Mann-Warten. Dort, wo der Film spielt, in der Mitte Berlins, lag nach der Maueröffnung das exzessive Zentrum der Stadt, die Welt der illegalen Clubs, der körperlichen Verausgabung, der Drogen, der Kellerbässe, der blassen, durchschwitzten Gestalten, die es am Ende der Nacht an den schlammigen Baustellen der Bürokomplexe vorbeispülte, der 48 allgegenwärtigen Ohrenbetäubung des Techno, des Durchgefeierten und Durchgeschwitzten und Eingesauten und Zerrissenen – und ausgerechnet hier entsteht, wie der Film vorführt, eine Welt cremig matter Genüsse, in der das intensivste Erlebnis die ins Fleisch schneidenden Henkel der Louis Vuitton-Tüte oder der Yogakurs sind, den die Frau am nächsten Tag besuchen wird, wenn der kalte Berliner Regen über den Roofpool und die Kuppel des neuen Schlossimitiats nebenan weht. Was ist passiert mit dem lebendigen, wilden Berlin, nachdem sich alle sehnen? Es gibt es noch, aber nicht mehr im Zentrum der Stadt.

Es wurde zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Gentrifikation auch positive Seiten hat und dass es eine unsympathische und populistische Aggression gegen alles gibt, was die verbummelte Schlurfigkeit Berlins gefährdet, einen Hass auf alles, was nach Geld und Stil aussieht – Die neuen Innenstadt-Immobilien inklusive des Schlossimitats aber sind, auch wenn das hartnäckig immer wieder behauptet und herbeigesehnt wird, nicht die Rückkehr der bürgerlichen Kultur in das vom Sozialismus verwüstete Zentrum, sondern die Ausnutzung und Vollendung der antiurbanen Planwirtschaftsmisere durch einen zynischen Immobilienkapitalismus.

Die neuen Bauprojekte verdrängen nicht einfach nach guter alter Gentrifizierungsart das Einfache und Provisorische durch ein wohlhabenderes bürgerliches Leben. Sie zombifizieren die Stadt: Sie lassen das, was sie verdrängten – die Ateliers, die kleinen Kunsträume, das Improvisierte, Provisorische – als wertsteigerndes, belebendes Bild wiederauferstehen. So sollen im Schloss Vernissagen stattfinden, in  den Atelierräumen der neuen Luxusimmobilien soll es Performances geben. Die neue Stadt baut als Fiktion nach, was sie soeben verdrängte: Der Künstler soll dem Quartier das Aroma urbaner Widerständigkeit geben, Kultur kommt als Untoter im Gewand der Culture zurück, um den Bewohner über die Sterilität hinwegzutäuschen, die mit ihm Einzug hielt. Der Künstler darf als Darsteller seiner selbst an den Ort seiner Verdrängung zurückkehren und vor der Schlossattrappe auftreten, um die offensichtliche Langeweile dort zu zerstreuen. Und es ist eine Attrappe, ein architektonischer Zwitte, der angeblich alle Seiten befriedigen soll: Als zynische Reminiszenz an uneinsichtige Ostdeutsche wurde eine moderne Rasterfassade nach Osten gebaut; für die preußensüchtigen Wessis wird die alte Schlossfassade auf den Betonkasten geklebt – was genauso identitätsstiftend ist wie der Vorschlag, den Fernsehturm am Alex zum Westen hin als Reiterstandbild Friedrichs des Großen zu verkleiden.

Im entleerten, als politisches Gebäude obsolet gewordenen Palast der Republik, der seit 1976 als moderner Sitz der DDR-Regierung und „Volkspalast“ diente, hatten sich zum Schluss Künstler angesiedelt, es wurde dort Theater gespielt und gefeiert, der leere Kokon des Kommunismus mit eben jenem Leben gefüllt, das Berlin heute ausmacht. Damit wurde per Edikt Schluss gemacht, auf dass alle Spuren dessen, was nach 1933 in Berlin geschehen ist, aus dem Stadtzentrum verschwinden. Hier war nichts, sagt das neue Berlin, alles wie immer, Schloss schön in der Mitte, alles gut. Der Wiedergänger des Hohenzollernkastens ist aber vor allem eins: eine "süße Rache am Kommunismus", wie der „Spiegel“ treffend formulierte.

Das Schloss, sagen seine Befürworter, gebe Berlin seine Mitte zurück, als ob es sich hierbei um eine stadtanatomische Tatsache handele, über die nicht diskutiert werden könne. Man kann es anders sehen: Es versperrt den Blick ins Offene, es verrammelt, wo gerade etwas entstand. Dennoch haben die Medien und die Politik es geschafft, dass Schloss -  mitsamt seinem Inhalt, der „Humboldtforum“ getauften Präsentation der auf zweifelhafte Weise zusammengetragenen, bisweilen geraubten ethnologischen Sammlungen  -  zum  goldenen Kalb der Neuberliner Sinnstiftungshysterie werden zu lassen – es erschienen über die vergangenen Jahre gerechnet, in den wichtigeren deutschen Zeitungen rund dreißigmal so viele große Artikel zum Schloss wie zu den Problemen der Berliner Vorstädte. Dabei dürften die für das vielbeschworene Lebensgefühl und das Selbstverständnis der Stadt viel wichtiger sein als die Frage, ob die unselige Hohenzollernkiste nun wieder aufgebaut wurde oder nicht. Natürlich ist der Schlossplatz ein exponierter und ein symbolischer Ort – aber gerade wenn dieser Ort ein gemeinschaftsstiftender hätte werden sollen, hätte man das Schloss nicht wieder aufbauen dürfen.

Nachdem in Berlin seit dem Mauerfall lang mit einer geradezu hysterischen Energie jede Brache zugebaut wurde, die von den Verwüstungen der vergangenen 60 Jahre zeugte, hätte es gut getan, der Stadt eine Freifläche zu lassen, auf der man Luft holen kann, gemeinsam sein, experimentieren kann. Ein Freiraum, ein Park, wie ihn Christoph Ingenhoven vorschlug,  hätte auch kommenden Generationen die Chance gelassen, die Stadt und ihr Zentrum zu definieren. Solange wäre die Fläche zwischen Rotem Rathaus und Friedrichswerdersche Kirche nicht nur ein öder Parkplatz, sondern eine offene Übergangszone zwischen Ost und West gewesen, eine bewusst undefinierte, offene Mitte, in der vieles stattfinden kann.

Christoph lngenhoven wollte dazu den Palast der Republik abreißen. Ich weiß gar nicht, ob das nötig gewesen wäre; ob nicht ein umwucherter Palast als moderne, von Künstlern und Theatern bespielte  Ruine in einem Berliner Central Park nicht viel eindrucksvoller gewesen wäre.

Berlin fehlt der Mut zum Wagnis, zum Neuen. Immer wieder wird ja Schinkels Berlin beschworen. Und tatsächlich wäre Schinkel ein gutes Vorbild: nicht sein Baustil, aber seine Haltung. Kaum jemand hat so entschlossen, so mutig, so radikal in das konfuse Stadtgefüge eingegriffen, niemand sonst hat ein für seine Zeit so schockierend neues Berlin erfunden wie Schinkel. Gerade wenn man sich Schinkels Haltung zum Vorbild nimmt, darf man nicht die Bauten der Vergangenheit als halbgare Chimären wiederauferstehen lassen; wer in Schinkels Tradition Stadt bauen will, muss nach Orten suchen, an denen die Bedürfnisse der Gegenwart einen Ausdruck und einen Platz finden. Das Berliner Zentrum sieht anders aus.

Was ist so trostlos am Schloss, der Berliner Friedrichstraße, den ganzen neuen, synthetischen Stadtplanungen? Die Neubauten, die wie Aktenordner Spalier stehen, die nächtliche Leere, der man anmerkt, dass hier nur Büros und kaum noch Wohnungen zu finden sind?

Vielleicht waren es, anders als die Berliner Stadtplaner es nach 1989 dachten, nicht nur die "Stadträume" des alten Berlin, die die Stadt so lebendig machten und die man mit scharfkantigen, traufhöhengedeckten Kisten grob nachstellte, sondern die leider nicht mitrekonstruierte Überfülle: Sich mit barocken Balkonen wild in die Straße lehnende Fassaden, an denen man ganze Armeen von Karyatiden angebracht hatte, darunter ein Gedränge, ein Chaos aus Droschken, Menschen, Kiosken – eine Kultur des Öffentlichen, die entstand, weil so viele Menschen nach Berlin zogen, die in die Cafés gingen, weil die Wohnungen zu eng waren.

Dieser Eindruck von Leere hat auch etwas mit der Besiedlungsdichte der Stadt zu tun. Das Berlin der zwanziger Jahre, das auf alten Fotos als glitzerndes, funkelndes Dickicht aus Kaffeehäusern, Neonreklamen, Ampeln, Trambahnen, Fuhrwerken, Pelzmänteln, Autos, Hüten, Elektrizität, Hektik, Liebe und Zigarrenqualm erscheint, war das Ergebnis einer irrwitzigen Kompression. 1877 wurde Berlin Millionenstadt, bis 1905 verdoppelte sich die Einwohnerzahl, 1920 war man bei vier Millionen Einwohnern, Berlin war nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt. Emigranten strömten nach Berlin und überfüllten die Stadt, und diese Überfülle war ihr Reichtum: Ums Schloss herum und in der Friedrichstraße wohnten dreimal so viel Menschen, wie eigentlich geplant war. Diese Massen, die ins Zentrum strömten, brachten ein Durch- und Übereinander der sozialen Schichten und kulturellen Rituale mit, eine chaotische Verdichtung, die das Gegenteil der Bebauung innerstädtischer Leerflächen mit gepflegt-hochpreisigem Zombifikations-Urbanismus war. Natürlich gab es im Berlin der zwanziger Jahre noble Wohnbauten. Aber gleich daneben, dahinter, unter dem Dach, lebten Menschen mit deutlich weniger Geld, die Bars und kleine Läden eröffneten, in denen sich die sozialen Schichten durchmischten.

Diese Durchmischung und Superkompression sucht man in den neuen Wohnarealen vergeblich. Die Berliner Friedrichstraße leidet daran, dass man die stadträumliche Silhouette – Blockrandbebauung, Traufhöhe, Fassaden, die mehr Stein- als Glasanteil besitzen – zwar rekonstruiert und damit urbanistische Großautismen wie das Kudamm-Karree verhindert, jedoch nicht jenes Leben zurückgebracht hat, das die Friedrichstraße einst zu einem dichten, brodelnden Ort machte. Auch die Rekonstruktion dieses Ortes im Zentrum einer Stadt zeugt von einer weiterreichenden Strukturmisere staatlicher Baupolitik: Man baut formale Hüllen nach, um zu einem verlorengegangenen, lebendigen Stadtgefühl, einer verlorenen Atmosphäre zurückzufinden, aber man begreift nicht, dass man die strukturellen Bedingungen dieser Atmosphäre untersuchen und dass man. um zu einer ähnlichen Stadtatmosphäre zu kommen, eventuell ganz andere Formen bauen muss. Der Friedrichstraße hätte es geholfen, wenn man von Anfang an, statt auf Profitmaximierung durch Büroflächenbau zu setzen, neben den Büroflächen eine extrem verdichtete, populäre Wohnbebauung geplant hätte: Kurze Zeit später hätten sich dann auch Cafés, kleine Läden oder Kinos angesiedelt. So aber ist die Friedrichsstraße eine Berliner Version von La Défense im Maßanzug der alten europäischen Stadt: ein Büroviertel in nostalgischer Gussform. Dass sich hier statt eines gemischten Zentrums eine Bürowelt breitmacht, in der Effizienzdenken die Form bestimmt, verraten bei näherem Hinsehen die meisten Fassaden – die eben nicht den Detailreichtum, die fast hysterische Überdekoration alter Berliner Gründerzeitfassaden aufweisen, sondern wie petrifizierte Aktenordner in Reih und Glied stehen. Die Stadt ist das Abbild der Renditebestrebungen der Bauwirtschaft; in dieses deprimierende Bild greift der Staat ein – in dem man ihr zum Trost das Schloss wieder hinstellt, wo einst die Berliner lustwandelten, was sie aber vielleicht auch trotz und nicht wegen des Schlosses taten.

Das Öffentliche hat mit Öffnung, mit Zugänglichkeit, Permeabilität zu tun. Ein Park mit immer wieder neu bespielbarer, leerer Palastruine wäre so ein Ort gewesen.

Aber vielleicht wollten die Planer der neuen Städte auch gar nicht zum Ideal der wilden, offenen,  übervollen Stadt zurück. Vielleicht ist das Ideal nicht die glitzernde, metropolitan-kosmopolitische, unübersichtliche, gefährliche, verlockende, wilde, laute, dampfende, unscharfe, spitze, schrille, laute, sanfte, verlorene, eiskalte und überhitzte Metropole der Moderne, die Stadt von Gefahr und Versprechen, – sondern das Gegenteil, die feudale, kleinstädtisch-vormoderne Stadt, die mit der alten Kutsche im Werbefilm der  "Kronprinzengärten" beschworen wird: die Stadt des Idylls, der Sicherheit. Beide Modelle stehen sich hier gegenüber: die offene Stadt des Parks - als Ort des Abenteuers, der Begegnung mit Unbekanntem und Verwirrendem; und die Stadt des Schlosses - als aufgeräumte, blitzblanke, überschaubare Ordnungsvision. Vielsagend war die Art und Weise, auf die der Berliner Liegenschaftsfonds ein großes städtisches Grundstück in der Nähe des Schlossgartens im Bieterverfahren anpries: als "Grundstück für die Entwicklung von hochwertigem Wohnen" unter dem Titel "Wohnen wie Sophie Charlotte", die preußische Königin. Wie es, gut ein halbes Jahrhundert nach Gründung einer modernen demokratischen Bundesrepublik, im Kohl-, Schröder- und Merkeldeutschland zu diesen alles bestimmenden Wünschen nach einer vordemokratischen Lebensform kommen konnte, ist eine Frage, die Historiker und Psychologen werden klären müssen.

Niklas Maak, 2001/2015

  • Standort
  • Berlin, Deutschland
  • Gebaut
  • Dauer der Ausstellung
    17. Februar– 12. April 2001